Das Leben vor der Geburt
Schon im Mutterleib sind wir Geschöpfe mit Gedanken und Gefühlen
Das Leben vor der Geburt ist seit den 1960er und 1970er-Jahren wie nie zuvor erforscht und dokumentiert worden. Rasterelektronenmikroskope, Fiberoptik, Speziallinsen, Ultraschallaufnahmen und andere Messgeräte und Labortechniken bringen das Zauberkunststück fertig, dass wir uns heute ein umfassendes Bild davon machen können, wie sich jeder einzelne Teil des körperlichen Systems vor der Geburt entwickelt. Man konnte sogar beobachten, wie das ungeborene Kind bei einer Fruchtwasseruntersuchung zurückschreckt.
Das Ergebnis der wissenschaftlichen Forschung: Schon als Fötus nehmen wir ständig Informationen auf und lernen aus unseren Erfahrungen auf recht ähnliche Weise wie Erwachsene. Wir sind keine empfindungslosen Wesen während der Zeit im Mutterleib, sondern sehr komplexe kleine Geschöpfe mit Gedanken und Gefühlen. Minuten nach der Geburt kann ein Baby das Gesicht seiner Mutter — das es nie gesehen hat — aus einer ganzen Fotogalerie herausfinden. Bedenken Sie einmal, wie reibungslos die Sinne bei der Geburt aufeinander eingespielt sind: Die Augen drehen sich mit dem Kopf in Richtung eines Geräuschs; die Hände werden gehoben, um die Augen vor grellem Licht zu schützen; liegt das Baby zum ersten Mal an der Brust, kann es saugen und in perfekter Gleichzeitigkeit dazu atmen.
Die menschliche Schwangerschaft und die Entwicklung des Fötus sind also gut erforscht. Nach neuen Schätzungen sind zwischen 50 und 78 Prozent aller Schwangerschaften Mehrlingsschwangerschaften. So hat mindestens jedes zweite Kind, das zur Welt kommt, während seiner Entwicklung im Uterus ein Schwesterchen oder Brüderchen verloren - meistens in den ersten Wochen und ohne das die schwangere Mutter etwas von dem Todeskampf in ihrer Gebärmutter bemerkte. Jedoch aus falscher "Schonung" wird mit den Müttern selten darüber gesprochen.
Eine erfahrene Gynäkologin berichtete mir, dass sie immer häufiger schwangere Frauen mit Ultraschalluntersuchungen begleitet, die mit Zwillingen bzw. Mehrlingen schwanger sind. Umweltgifte tragen dazu bei, dass eine Frau eher mehrere Eisprünge bekommt. Entscheidend ist auch das Alter der Frau. 35-Jährige gebären etwa viermal häufiger Zwillinge. Selbst bei künstlicher Befruchtung werden gleich mehrere befruchtete Eier eingepflanzt, damit sich wenigstens eins entwickelt. Oft sind es mehrere. Nach dem Tod eines Fötus führt diese Gynäkologin regelmäßig Untersuchungen durch, um zu überprüfen, ob der lebende Zwilling sich durch den toten Fötus in Gefahr befindet. Zu ihrer großen Überraschung stellte sie bei den folgenden Untersuchungen fest, dass der verstorbene Zwilling immer weniger wird und nach einiger Zeit absolut spurlos verschwunden ist, vollständig und restlos von der Gebärmutterschleimhaut absorbiert.
Meiner Meinung nach haben Zwillinge eine besonders tiefe Liebe zueinander. So rein, so innig, so unschuldig vereint und verschmolzen begann die gemeinsame Lebenszeit im Mutterleib.
Bevor das eigene Herz in der 6. Schwangerschaftswoche zu schlagen beginnt, ist das Ohr angelegt. Wir hören das Rauschen des Blutes, den Herzschlag und die Verdauungsgeräusche der Mutter und auch schon die Umgebungsgeräusche. Wir können unseren Bruder oder unsere Schwester hören. Auch der Tastsinn, das Wahrnehmen über die Haut, beginnt sehr früh. So wenden Neugeborene ihren Kopf ab und recken ihre Arme und Schultern, um das Haar wegzustoßen, das über ihre Wange streicht. Wir spüren unseren Bruder oder unsere Schwester an unserer Seite und bewegen uns zusammen mit ihm oder ihr. Heute ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass bei einer Fruchtwasserpunktion der Fötus auf die Nadel reagiert und sich blitzschnell weg bewegt. Man muss sich dabei klar machen, dass die Föten erst in den letzten beiden Schwangerschaftsmonaten die Augen öffnen können. Der Fötus "sieht" also mit geschlossenen Augen die winzige Punktionsnadel und wendet sich blitzschnell ab.
Was mag dann der Fötus erst wahrnehmen, wenn sein Bruder oder seine Schwester aufhört zu wachsen, die vertrauten Herzgeräusche schwächer werden, die körperlichen Berührungen nicht mehr erwidert werden und er den Raum, wo der andere sein müsste, besetzt. Dann ist er allein. Nach der Geburt legt sich ein Schleier des Vergessens auf alles, was er vorher erfahren hat. Ist alles das, was wir im Mutterleib erlebt haben, spurlos verschwunden und erledigt? Sicher nicht. Meiner Erfahrung nach reicht es nicht zu wissen, dass man einen Zwilling gehabt hat, sondern man muss diese Verbindung zum Anderen und die daraus ergebenden Folgen für das eigene Leben spüren. Nur in Verbindung mit den dazugehörigen Gefühlen hat die Wiederentdeckung des verlorenen Zwillings heilende Kraft. Eine Möglichkeit, herauszufinden, ob wir von einem Zwillingsverlust betroffen sind, um dann eine heilende Verbindung aufzubauen, ist eine systemische Aufstellung, ob in der Einzelarbeit mit mir oder in der Gruppe. Falls der Verlust kein Thema ist, wird auch keine Energie zwischen den Stellvertretern entstehen. Selbstverständlich gibt es noch viele andere erfolgreiche Therapiemöglichkeiten. In jedem Fall ist es von Vorteil, sich zu vergewissern, dass der Therapeut das Thema vom „verlorenen Zwilling“ kennt und darin praktische Erfahrung hat. Schließlich hat man das Liebste verloren, das man besaß. Dieses muss mit Leib und Seele wieder erfahren und gespürt werden. Dieses Gefühl der Verlassenheit, die Sehnsucht und der Schmerz brauchen Platz im Herzen. Sich an diese unendlich wohlige Innigkeit zu erinnern und das Wiedererleben der Gegenwart des anderen können Türen des Verstehens öffnen. Doch diese Erinnerungen sind oft hinter dicken Schutzmauern verborgen.
Bereits ein Embryo kann chronische Verspannungen bekommen, um bedrohliche Empfindungen abzublocken. Dieses dient dem Überleben. Es schränkt aber auch gleichzeitig die Empfindungsfähigkeit ein. Tiefe Gefühle wie Liebe, Angst, Trauer, Wut und Lust werden dadurch nur noch sehr bedingt wahrgenommen. Eine wichtige Entdeckung von Wilhelm Reich war, dass man Gefühle blockieren kann, indem man die Muskeln im Körper verspannt. Beispielsweise wird Angst nicht mehr gespürt, wenn man die Gesäßmuskulatur zusammenkneift. Einige alleingeborene Zwillinge befinden sich lebenslänglich in einer permanenten Gefühllosigkeit gegenüber den Gefühlen anderer Menschen. Diese Schutzmauern werden durch übertriebenes Rationalisieren, durch Beziehungs- und Arbeitssucht, durch einen Tot-stell-Reflex und vieles andere aufrecht erhalten. Oft lösen sich diese Mauern erst dann auf, wenn diese wohlige Erinnerung wiedererlebt wird. Dann beginnt ein Strom von Gefühlen zu fließen. Wir empfinden Wut auf den anderen, weil er gegangen ist, oder haben Schuldgefühle, weil wir womöglich unseren Zwilling getötet oder einfach mehr Glück gehabt haben als er. Und dann begreifen wir endlich: So viele Situationen im Leben waren geprägt von der Sehnsucht nach dem anderen und so viele Entscheidungen wurden auf eine bestimmte Weise getroffen, weil der andere gefehlt hat. Was heilt, ist der wiedergewonnene innere Kontakt zu unserem verstorbenen Zwilling.
Manche alleingeborene Zwillinge können ihr Herz nur wenig öffnen, damit nicht zu tiefe und gefährliche Gefühle entstehen. Dahinter steht die quälende Angst, dass der Andere gehen könnte. Das fühlt sich für sie absolut lebensbedrohlich an. Andere alleingeborene Zwillinge suchen ganz besonders die Nähe von anderen. Sie sind wie Klammeraffen und für den anderen kann dieses Nähebedürfnis einfach zu viel werden, wenn die erste Verliebtheit vorbei ist. Wenn der andere ihn verlässt, bricht für den alleingeborenen Zwilling die Welt zusammen, kennt er doch dieses Zurückziehen aus der Zeit im Mutterleib. Massive Ängste, wieder einen lieben Menschen zu verlieren und eine riesige Sehnsucht nach der ultimativen Nähe überfluten den überlebenden Zwilling. Viele Selbsttötungen zurückgestoßener Teenager haben darin ihren Grund.
„Seit ich mich erinnern kann, habe ich mich einsam gefühlt. Beim Spielen mit anderen Kindern hat mir immer etwas gefehlt. Ich musste oft weinen. Später konnte ich mich in meine Partnerschaften nie so richtig einlassen. Ich hatte immer sehr große Angst, dass mit mir etwas nicht stimmt, dass ich verrückt bin, bis ich an Hans-Peter Hepe geraten bin, der sich in einer systemischen Aufstellung mir als verstorbener Zwilling gegenüber stellte. Mit liebevollen Worten konnte ich 33 Jahre später meine verstorbene Zwillingsschwester anerkennen. Ich habe geweint, wie nie zuvor und gleichzeitig mich endlich befreit gefühlt. Zu Hause habe ich sofort meine Mutter gefragt, ob es sein könnte. Sie erzählte mir, dass sie in der 8. Schwangerschaftswoche Blutungen und befürchtet hatte, ich wäre gestorben.“ Anmerkung: In der 8. Schwangerschaftwoche haben wir die Größe eines Gummibärchens.
„Mit 38 Jahren habe ich eine systemische Aufstellung gemacht. In dieser Aufstellung wurde mir der Verlust meines verstorbenen Zwillingsbruders bewusst. Mein Verhalten änderte sich noch während der Aufstellung schlagartig. Ich konnte mich plötzlich mit gesunder Stärke den anderen gegenüber präsentieren, was mir bis dahin nie möglich war. In den Tagen danach wurde ich ruhiger und ließ meinen Kindern nicht mehr alles durchgehen, und mir wurde zum ersten Mal eine Zeichnung von mir bewusst, die mich seit 20 Jahren an der Wand meines Büros begleitet. Mit 18 Jahren hatte ich in der Schule als Malaufgabe ein Selbstporträt zu malen. Es sind zwei Personen auf dem Bild zu sehen. Einen Frauenkopf, den Betrachter ansehend, in Gelb-Rot-Tönen und einen Männerkopf, der zur Frau schaut, in Blau-Tönen. Beide Köpfe sind gemeinsam umhüllt, und genau zwischen den beiden Köpfen war ein dünner Trennungsstrich. So machen Dinge erst im Nachhinein Sinn – mein verlorener Zwillingsbruder.“